SFH-141975 Unternehmertum Ökonomin Theurl: Wie aus St.-Pauli-Fans Genossenschafter wurden. Der Standard Renate Graber 2. November 2019, 18:00
Theresia Theurl sieht viel Potenzial in Genossenschaften, vor allem für junge Gründer und Startups. Kaum ein gutes Haar lässt sie an der Gemeinwohl-Ökonomie
So richtig in sind Genossenschaften nicht, gesteht auch Expertin
Theresia Theurl zu. Allerdings gibt es Neugründungen in Österreich, wo
etwa Raiffeisen und Volksbanken genossenschaftlich organisiert sind.
Heuer beispielsweise dazugekommen: Genossenschaften für den
Weiterbetrieb eines Ortswirtshauses in Vorarlberg, zur
interdisziplinären Aus- und Weiterbildung für Ärzte und Pfleger oder für
die Zollabwicklung am Grenzübergang Suben in Oberösterreich.
STANDARD: Sie kommen von einem Workshop des Österreichischen
Genossenschaftsverbands, in dem es um die Zukunft von Genossenschaften
ging. Sie empfehlen die für Start-ups. Was kann diese Rechtsform besser
als andere?
Theurl: Oft haben junge Leute eine gute unternehmerische Idee,
brauchen aber Gleichgesinnte, um sie zu realisieren. Und da empfiehlt
sich die Genossenschaft, denn sie ist ein Modell zum Aufbau
unternehmerischer Existenzen. Sie ist flexibel, weil man jederzeit neue
Mitglieder aufnehmen kann, man kann sie umgründen, und das alles geht
einfach und ohne großen Aufwand. Als Eigentümer kann man das Geschäft
entwickeln, und der Erfolg bleibt in der Genossenschaft.
STANDARD: Die meisten gründen aber GmbHs. Im Österreichichen
Genossenschaftsverband gibt es 150 Genossenschaften, neun sind heuer
dazugekommen. Genossenschaften gelten als angestaubt.
Theurl: Stimmt, die Genossenschaft ist zu wenig bekannt und
hat nicht unbedingt das zukunftsorientierte, moderne Image. Da braucht
es schon Berater, die Gründer auf diese Rechtsform hinweisen. In
Deutschland gibt es 8000 Genossenschaften, und die stellen ihr Licht oft
unter den Scheffel.
STANDARD: Dazu kommt, dass man den Gewinn nicht beliebig entnehmen kann ...
Theurl: Ja, aber das ist auch Risikovorsorge, weil das ein
Schutz für junge Gründer sein kann. Dazu trägt ja auch die im
Genossenschaftsverband angesiedelte Revision bei, die für die Prüfung
von Genossenschaften zuständig ist und Finger auf Wunden legen, warnen
kann. Gerade bei jungen Leuten gibt es eine gewisse Ernüchterung in
Bezug auf den Shareholder-Value-Kapitalismus. Sie wollen das Modell
nicht, in dem alles Erwirtschaftete an Investoren geht. Bei
Genossenschaften bleibt ein Teil im Unternehmen: Dieses Modell kommt bei
Jungen gut an.
STANDARD: Das tut auch die sogenannte Gemeinwohl-Ökonomie. Wo sehen Sie den Unterschied?
Theurl: Mit dieser Frage könnten Sie mich fast aggressiv
machen. Gemeinwohl-Ökonomie? Da kritisieren Leute, die meist wenig von
Ökonomie verstehen, unser Wirtschaftssystem als schlecht und
präsentieren vermeintlich neue Wege. Sie setzen alle bei der Verteilung
an, wie man von irgendjemandem zu irgendwem anderen verteilen kann. Es
interessiert sie überhaupt nicht, wie Wertschöpfung entsteht, wie ein
wirtschaftliches Ergebnis zustande kommt. Und dann sagen sie oft: Unser
neues System ist genossenschaftlich – dabei hat das gar nichts mit
Genossenschaften zu tun. Das Genossenschaftssystem setzt bei der
gemeinsamen Wertschöpfung an, und es ist klar, dass die Vorteile an die
Mitglieder, die Genossenschafter gehen. Genossenschaften müssen Gewinne
machen, es wird aber wenig davon ausgeschüttet. Darum ist das Modell
kein Modell fürs Reichwerden. Wer reich werden will, gründet keine
Genossenschaft.
In Deutschland gründen Unternehmer und Private Genossenschaften für schnelleren Breitbandausbau.
STANDARD: In Deutschland gibt es viele Genossenschaftsgründungen im Infrastrukturbereich, etwa beim Breitbandausbau. Rechnet sich das?
Theurl: Ja. In Deutschland ist man beim Breitbandausbau im
ländlichen Raum relativ langsam, weil er für die großen Anbieter recht
teuer und unattraktiv ist. Viele betroffene Unternehmen oder Bürger
wollen sich damit nicht abfinden, haben sich zusammengetan und
Genossenschaften gegründet. Die schaffen den Ausbau schnell und sind
auch wettbewerbsfähig. Bürger springen aber auch im Gemeindebereich mit
Genossenschaften ein, etwa wenn Gemeinden ihre Schwimmbäder, Festhallen
oder Vereinshäuser zusperren, weil sie sich das nicht mehr leisten
können oder wollen. Wenn diese Infrastruktur auf dem Land verschwindet,
wird es für die Bevölkerung sehr schnell sehr trist. Und darum übernimmt
sie das.
STANDARD: Wie stemmen sie das finanziell?
Theurl: Es braucht jemanden, der das zu seinem Projekt
erklärt, in die Hand nimmt und der Mitstreiter, also Genossenschafter,
auftut. Wenn man das geschafft hat, hat man alle Möglichkeiten,
Finanzierungen aufzustellen.
STANDARD:In Deutschland gibt es auf dem flachen Land auch
Ärztegenossenschaften, bei uns gibt es die aus gesetzlichen Gründen
nicht. Ein Rezept gegen den Ärztemangel?
Theurl: Es war zunächst schwierig, weil die Ärztekammer den
Genossenschaften die Zulassung verwehrt hat, vor allem wegen des
Haftungsrisikos. Gerade auf dem Land müssen Ärzte Tag und Nacht
einsatzbereit sein, tragen also besonders viel Risiko. Inzwischen ist
das Problem gelöst: Eine genossenschaftliche Versicherung deckt das
Risiko ab, die Kammer gibt den Ärzten die Zulassung. Immer mehr Ärzte
schließen sich in Genossenschaften zusammen.
Sie könnten sich einen Reiseführer aus der Genossenschaft holen: Touristen in Berlin.
STANDARD: In Berlin gibt es auch Reiseführer-Genossenschaften ...
Theurl: Ja, die Stadtführer waren in prekären Verhältnissen
tätig und kamen eines Tages auf die Idee, sich zusammenzutun. Als
Genossenschaft mit mehr als 200 Stadtführern bieten sie heute ein
breites Spektrum an: Die einen kennen bestimmte Stadtviertel sehr gut,
andere bestimmte Museen, wieder andere sind auf Frauen- oder
Künstlerthemen spezialisiert. Heute wenden sich die Kunden an die
Genossenschaft, der einzelne Reiseführer muss nicht mehr um Aufträge
rennen, sondern die Genossenschaft weiß, wer der Beste für den
jeweiligen Kunden ist. Die Auftragslage hat sich verbessert, die Kunden
sind zufriedener, die Genossenschaft ist äußerst erfolgreich. Das gilt
übrigens auch für Künstlergenossenschaft Berlin Musik: Da sind Musiker,
Location-Besitzer, Event-Organisatoren, Agenturen Genossenschafter,
insgesamt rund 600 Leute. Und alle profitieren.
STANDARD: Bei der Genossenschaft rund um den Hamburger Fußballklub St. Pauli waren Geldprobleme Gründungsanlass.
Theurl: Ja, Mitglieder des Fußballklubs haben heuer im Sommer
dessen Stadion gekauft und betreiben das nun als Genossenschaft.
Erworben haben sie das Stadion, weil der Klub in finanzielle Schieflage
geraten war. Die Fans von St. Pauli sind außerordentlich treu, wollten
dem Klub helfen – und hatten das Geld fürs Stadion relativ rasch
beisammen. Die Fans sind jetzt Genossenschafter.
STANDARD: Deutsche Unternehmen gründen immer öfter Familiengenossenschaften. Wozu?
Theurl: Weil immer mehr Unternehmen Personalprobleme haben.
Immer mehr erfahrene Frauen müssen aus dem Arbeitsleben ausscheiden,
weil sie sich um ihre Kinder oder pflegebedürftige Verwandte kümmern.
Sie haben dann das Problem der unterbrochenen Karriere, die Unternehmen
müssen Ersatz finden. Und da haben sich etliche größere Unternehmen in
rund einem Dutzend Familiengenossenschaften zusammengefunden. Sie
organisieren für die Arbeitnehmer alles, was die brauchen, um
weiterarbeiten zu können: Pflegedienstleistung, Beaufsichtigung für
Kinder. Das funktioniert sehr gut: Die Frauen können beruhigt
weiterarbeiten, die Unternehmen tragen die Kosten.
STANDARD: Die Entscheidungsfindung in Genossenschaften ist mühsam, jeder Genossenschafter hat eine Stimme. Bremst das nicht?
Theurl: Natürlich führt dieses Prinzip manchmal dazu, dass
ewig diskutiert und nie entschieden wird – und irgendwann ist es zu
spät. Aber das muss nicht sein, Genossenschaften haben ja auch ein
Management. Genossenschaften gehen äußerst selten pleite.
STANDARD: Österreichs Volksbankensektor wäre nach der Krise
fast umgefallen. Die Volksbanken AG Övag hat Geld vom Staat gebraucht
und wird abgewickelt.
Theurl: Garantie gibt es nie. Und das muss ich schon sagen: In
Deutschland ist der Steuerzahler noch nie für eine Genossenschaftsbank
herangezogen worden – auch nicht in der Krise. (Renate Graber,
2.11.2019)